Die letzten Jahre hielt sie ihr Leben durch Nähen und Reden zusammen. Sie war sehr alt geworden und arbeitete – bis auf das Wochenende – jeden Tag bis zu ihrem Tod. Ihre einst aufsehenerregenden Häuser hatte sie verkauft und zwei Zimmer im „Ritz“ bezogen. Jeden Morgen verließ sie ihr karges, weißgetünchtes Hotelzimmer und ging über die Straße in ihr luxuriöses Modehaus. Sie verbrachte ihre Tage kniend vor reglos dastehenden Modellen, die den zu ihrer Jugendzeit üblichen Modepuppen nicht unähnlich waren. Sie drapierte, raffte, schnitt, trennte auf und nähte zu – besessen von dem Wunsch, eine Form aus Stoff an dieser Figur zu gestalten. Abends kehrte sie in ihr Hotelzimmer zurück. Sie konnte nicht mehr allein sein, und sie konnte nicht mehr schlafen. Ihre auserwählten Vertrauten, die einstmals neugierig auf einen lebenden Mythos gewesen waren, nahm sie mit als Gefangene in ihre schlaflose Welt. Sie gönnte ihnen kein eigenes Leben und verdammte sie zu Zuhörern. Ununterbrochen versuchte sie ihr Leben zu erzählen, versuchte sie die Einsamkeit zu bannen und verlor sich dabei in einem endlosen Monolog. Sie füllte ihre Lebensgeschichte mit Anekdoten und Geheimnissen, die sie gelesen, gehört oder erfunden hatte. Ihr gepriesener, spröder Charme war bitterem Sarkasmus gewichen.
Der Tätigkeit des Auftrennens und Zusammennähens nicht unähnlich erzählte sie jede Nacht ihr Leben neu. Sie errichtete einen Wall unendlich verwirrender Geschichten zwischen sich und ihren Zuhörern. Wenn eines ihrer gehüteten Geheimnisse platzte, erstickte sie es mit neuen Lügen. So entstand ein Lebensgebilde aus Illusion, Täuschung und Wahrheit, in dem sich ihre Vertrauten und späteren Biographen verstrickten.
Coco Chanels Erzählweise jedoch ist stumm. Ihre Geheimnisse sind in den Kreationen verborgen, die ihren Ruhm und ihren Reichtum begründeten.